Turkey is no more!» – noch hundert Jahre nach seiner Unterzeichnung empfinden viele Türken den Friedensvertrag von Sèvres als epochale Demütigung Ob Russland, Ungarn oder die Türkei – viele alteuropäische Grossmächte haben bis heute den Verlust ihres Imperiums nicht verwunden. Nationalistische Regierungen schüren erfolgreich den Opfermythos, allen voran die Türkei unter Recep Tayyip Erdogan. GASTKOMMENTAR Rasim Marz 10.12.2020, 05.30 Uhr 10 Kommentare Istanbul ist gefallen: Britische Truppen paradieren im Januar 1919 durch die Strassen der Hauptstadt. (Bild oben) Courtesy of the Library of Congress
Weite Teile der türkischen Bevölkerung sehen sich von einem Gespenst aus längst vergangenen Zeiten verfolgt, und sie sehen nur im Aufstieg der Türkei zu einer führenden Grossmacht eine Befreiung. «In dieser kritischen Zeit, in der versucht wird, die Welt und unsere Region umzustrukturieren, werden wir, wenn wir aufhören [uns dagegen zu wehren], mit den Bedingungen von Sèvres konfrontiert sein», erklärte kürzlich der türkische Staatspräsident. «So wie die Türkei vor hundert Jahren den Vertrag von Sèvres ablehnte, so wird sie sich diesem modernen Sèvres nicht beugen, das ihr im östlichen Mittelmeerraum aufgedrängt wird.» Er sprach damit gezielt ein altes kollektives Trauma an, die Ängste der türkischen Nation vor der Aufteilung ihres Territoriums und vor Souveränitätsverlust. Der Untergang des osmanischen Imperiums hat eine Wunde hinterlassen, die bis heute nicht verheilt ist. Ein eigenmächtiger Grosswesir Das von der Entente bezwungene Osmanische Reich erhielt 1919 von den Siegermächten die Gelegenheit, als einziger der unterlegenen Staaten des Ersten Weltkrieges vor dem Hohen Rat sprechen zu dürfen. Hierzu entsandte der Sultan zwei Delegationen nach Paris, die gemeinsam mit den Alliierten Verhandlungen aufnehmen sollten. Der Grosswesir Damad Ferid Pascha beanspruchte als osmanischer Regierungschef, die Verhandlungen mit den Alliierten allein zu führen, was aufgrund seiner mangelnden aussenpolitischen Erfahrung grosse Bestürzung in politischen Kreisen hervorrief. Der Sultan misstraute ihm in dieser Ein eigenmächtiger Grosswesir Mission, weshalb er sich bemühte, Ahmed Tevfik Pascha, den langjährigen Aussenminister seines verstorbenen Bruders, dazu zu bringen, eine zweite Delegation zur Unterstützung des Grosswesirs zu leiten. Der Sultan erhoffte sich dadurch, die Schritte des Regierungschefs in Paris kontrollieren zu können. Ankara und Budapest stilisieren die Pariser Vorortverträge zu einem Opfermythos ihrer Nation, weigern sich aber, sich den dunklen Seiten der eigenen Vergangenheit zu stellen. Der Grosswesir erreichte als Erster Paris und begann zur starken Verwunderung der anderen Delegationsteilnehmer direkt mit den Vorbereitungen. Noch bevor Ahmed Tevfik Pascha eintraf, trat der Grosswesir am 17. Juni 1919 im Saal von Versailles vor die führenden Vertreter der Siegermächte. Der französische Premierminister Georges Clemenceau, der britische Premierminister Lloyd George und der amerikanische Präsident Woodrow Wilson hatten mit ihren Aussenministern einen Tag zuvor Deutschland in einer Note angeklagt, für die Vorbereitung und den Ausbruch des Weltkrieges allein verantwortlich zu sein. Dies weckte auf osmanischer Seite die Hoffnung auf mildere Vertragsbedingungen. Der Grosswesir, von Eitelkeit und Hochmut gepackt, wollte denn auch als eine Art Sieger nach Istanbul zurückkehren. Er erklärte gegenüber den westlichen Staatsführern, dass sein Land die Verantwortung für die Greuel des Krieges übernehme, aber die Wiederherstellung der Grenzen von 1878 fordere. Er forderte England und Frankreich dazu auf, die besetzte Arabische Halbinsel, von Syrien bis Jemen, zu räumen und die Ägäischen Inseln an die Hohe Pforte zurückzugeben. Über den Status von Ägypten und Zypern seien die Osmanen bereit zu verhandeln. «Ich habe noch nie etwas Dümmeres gesehen», beschied daraufhin Wilson und fügte hinzu, dass die osmanische Delegation einen «völligen Mangel an gesundem Menschenverstand und ein völliges Unverständnis für den Westen» an den Tag gelegt habe. Für Lloyd George waren die Worte des Grosswesirs «der beste Beweis für die politische Unfähigkeit der Türken». Und Clemenceau fuhr den Grosswesir an: «Ihr Türken, ihr glaubt, dass ihr der Ruhm des Islams seid; nein, ihr seid Banditen. Ihr habt euch mit den orthodoxen Bulgaren, den katholischen Österreichern und den protestantischen Deutschen verbündet, um die Welt auszuplündern!» Erniedrigende BedingungenHier traten europäische Ressentiments zutage, wie sie Edward Said später mit seinem Begriff des Orientalismus beschrieben hat. In dieser Geisteshaltung wird dem Orient jede Zivilisation und Ebenbürtigkeit abgesprochen. Das dilettantische Wirken des Grosswesirs bildete dafür eine ideale Projektionsfläche. Auch Ahmed Tevfik Pascha konnte nach seinem Eintreffen nichts mehr kitten. Jahre später erklärte er in einem Zeitungsinterview, dass Damad Ferid Pascha «realitätsfern, verwirrt und übermässig naiv» vorgegangen sei. Für den Sultan war das eigenmächtige Handeln des Grosswesirs ein «schwerwiegender Fehler». Erniedrigende Bedingungen Ungeachtet der Meldungen aus Anatolien, dass sich um General Mustafa Kemal Pascha der türkische Widerstand formiere, bereiteten die Siegermächte im Frühling 1920 in Paris die endgültige Aufteilung des Osmanischen Reiches vor. Bereits ein Jahr zuvor hatte Woodrow Wilson für die Auflösung der Türkei plädiert. Er stimmte daher dem Plan einer Gesamtaufteilung zu, den Lloyd George vorlegte. Es gelte, «alles herauszuschneiden, was die Türkei aufgeben kann». Die Alliierten sahen vor, Istanbul und die Meerengen zu internationalisieren und die Häfen zu Friedens- und Kriegszeiten zu kontrollieren. Das türkische Kernland Anatolien sollte zwischen England, Frankreich, Griechenland und Italien aufgeteilt und den Türken sollte nur ein kleiner Rumpfstaat bei Ankara überlassen werden, dessen Finanzen einer alliierten Kommission hätten unterstellt sein sollen und der nur eine Armee von fünfzigtausend Soldaten hätte haben dürfen. Die englische Zone im Südosten war für einen Kurdenstaat vorgesehen, während ein grosser armenischer Staat im Nordosten entstehen sollte. Das osmanische Gebiet ausserhalb Kleinasiens wurde in «Völkerbund-Mandate» zerstückelt: Syrien und Libanon fielen an Frankreich, während England seinem Empire Ägypten, Mesopotamien, Palästina, Kuwait und Zypern einverleibte und in Arabien einen Satellitenstaat installierte. Der «Sieg» von LausanneDie Siegermächte drohten sowohl der Regierung des Sultans als auch der nationalen Regierung von Mustafa Kemal Pascha in Ankara, die Kampfhandlungen sofort wiederaufzunehmen, wenn die Friedensbedingungen nicht angenommen würden. Der «Sieg» von Lausanne «Das ist ein Todesurteil, und ein zum Tode Verurteilter hat nichts zu unterzeichnen», schrieb Ahmed Tevfik Pascha an seinen Sohn. Er verliess kurz darauf Paris, und eine andere osmanische Delegation unterzeichnete am 10. August 1920 unter Protest den Friedensvertrag in einer Porzellanmanufaktur in Sèvres bei Paris. «Turkey is no more!», rief der britische Premierminister Lloyd George vor Freude aus, und im Osmanischen Reich erschallte von den Minaretten der Ruf der Muezzins zum Totengebet. Eine vollständige Ratifizierung durch das osmanische Parlament und den Sultan blieb aus. Der Vertrag von Sèvres beendete de facto die Existenz des osmanischen Staates und brach die Moral der Türken, ungeachtet der Tatsache, dass er finanziell und militärisch unmöglich umzusetzen war. Die politische Elite des Landes und der Sultan glaubten nicht daran, mit einer leeren Staatskasse und den Resten einer geschlagenen Armee den Siegermächten auch nur ansatzweise Widerstand leisten zu können. Es waren die Offiziere, allen voran Mustafa Kemal Pascha, die in der Guerillataktik die Möglichkeit erkannten, Widerstand zu leisten. Ihnen gelang es, die europäischen Mächte zurück an den Verhandlungstisch zu zwingen. 1923 wurden in Lausanne die in Sèvres diktierten Friedensbedingungen aufgehoben. Für die Kemalisten war Lausanne ein Sieg über das mächtige Europa. Für die islamisch-konservativen Parteien hingegen ein gekaufter Frieden, der viele Territorien des osmanischen Imperiums preisgab. Entsprechend hatte das «SèvresSyndrom» seit Bestehen der Republik massgeblichen Einfluss auf die innenpolitischen Entwicklungen und den aussenpolitischen Kurs der Türkei. Dies spiegelt sich insbesondere in den an Europa und die USA gerichteten Forderungen, die Sicherheitsinteressen der Türkei angemessen zu berücksichtigen. Im Hintergrund spielte stets der Drang mit, die alte Grossmachtstellung zurückzuerlangen. Der frühere Präsident Demirel etwa reagierte auf europäische Forderungen, die Kurdenfrage friedlich zu lösen, mit dem Vorwurf, der Westen wolle «den Vertrag von Sèvres einbeziehen, um einen kurdischen Staat in der Region zu errichten». Ein Standpunkt, der auch vom islamistischen Politiker Erbakan nachdrücklich unterstützt wurde. «Einige europäische Länder sehnen sich nach einer Wiederbelebung von Sèvres», erklärte der wirtschaftsliberale Ministerpräsident Yilmaz 1998 in einem Interview mit der «New York Times». Der sozialdemokratische Ministerpräsident Ecevit zog 1999 folgenden Vergleich: «Die PKK ist keine Volksbewegung. Hinter ihr stehen interessierte ausländische Kreise, welche die Türkei schwächen und spalten wollen – genauso wie es die europäischen Siegermächte im Vertrag von Sèvres nach dem Ersten Weltkrieg vorgesehen hatten.» So wie die Türkei an Sèvres leidet Ungarn an Trianon, dem Pariser Frieden von 1920, der dem Land zwei Drittel seines Territoriums kostete. Ministerpräsident Viktor Orban spricht heute von einem «Friedensdiktat» und einem «Todesurteil» und blockiert mit seinem Veto erfolgreich Versuche der EU, der Türkei Sanktionen aufzuerlegen. Ankara und Budapest stilisieren die Pariser Vorortverträge zu einem Opfermythos ihrer Nation, weigern sich aber, sich den dunklen Seiten der eigenen Vergangenheit zu stellen. Dabei hatten und haben sehr viele alte europäische Grossmächte mit dem Verlust ihres Imperiums zu kämpfen. Die gemeinsame Erfahrung historischer Traumata wäre eigentlich eine Basis, auf der die Staaten Europas einschliesslich der Türkei zueinanderfinden könnten. David Nikolaidis vor 12 Monaten Tatsächlich war die Aufteilung des osmanischen Reiches eine primitive Art Beute zu machen. Die damaligen Kolonialmächte wendeten die Kriegskunst an, wenn es darum ging, die nicht Aufgeklärten aufzuklären. Gleichzeitig wird jedoch im Artikel kein Wort für die Gräueltaten der Neotürken gegen Aramäer, Armenier und Griechen, die ab 1915 hunderttausende der nichtmuslimischen Minderheiten im osmanischen Reich töteten. Es handelte sich um eine systematische Ausrottung, mit dem Ziel das osmanische Reich zu "bereinigen". Es wird nichts über den grossen Kranken des Bosporus, der die Aufklärung des 18 Jahrhunderts grösstenteils, wenn nicht ganz, verpasste. "Seine" jahrhundert lang andauernde intellektuelle Erstarrung liess Millionen von Menschen im Dunkel, inklusiv "seiner" privilegierten Bürger, die türkischsprechenden Muslimen. Und die Folgen der verpassten Aufklärung leben im Balkan und nahem Orient fort. Es handelt sich um einen geschichtlichen Artikel, der die aktuellen Ressentiments grosser Teile der türkischen Bevölkerung gegen den Vertrag von Sèvres zu erklären versucht und dabei die tatsächlichen Opfer der Historie vernachlässigt. 14 Empfehlungen R. Meier vor 12 Monaten Nun, danke für die Hintergrundausleuchtung des Diktats, pardon Vertrags von Sevres. Der Abschluss des Artikels ist mMn leider etwas holprig oder sagen wir, zu moderat. Dass die Erinnerung an solche "Verträge" noch heute lebt halte ich für wenig verwunderlich, die Instrumentalisierung davon leider eine Folge. Denn gerade dieser "Vertrag" hier ist mMn eine Perversität schlechthin. Der "Nachgang" des ersten Weltkrieg war mMn ein Kulminationspunkt an Rasim Marz ist Historiker und Publizist mit Schwerpunkt auf der Geschichte des Osmanischen Reiches und der modernen Türkei.
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13.01.2022 Türkei träumt von eigener Seidenstraße 21.11.2021 Armenien lehnt türkischen Vorschlag für Korridor Aserbaidschan-Nachitschewan ab 16.11.2021 Armenien verkündet Waffenruhe 27.11.2021 Armenien und Aserbaidschan nähern sich an Der Krieg um Bergkarabach 2020 war eine militärische Auseinandersetzung zwischen den Streitkräften Armeniens und denen der Republik Arzach auf der einen Seite und den Streitkräften Aserbaidschans auf der anderen Seite, die im Juli 2020 begann und vier Monate später mit einem Sieg Aserbaidschans endete. Sie ist Teil des Konflikts um die Region Bergkarabach, wo sich 1991 die Republik Arzach für unabhängig erklärte und einen Krieg gegen Aserbaidschan 1994 mit armenischer Unterstützung gewann, international jedoch nicht anerkannt wurde. Die Kämpfe begannen im Juli 2020 an der gemeinsamen armenisch-aserbaidschanischen Staatsgrenze nordwestlich von Bergkarabach, wobei sich beide Seiten gegenseitig der Eskalation beschuldigten. Im Anschluss kam es zu weiteren Kämpfen und Zwischenfällen an der gemeinsamen Grenze sowie an der Waffenstillstandslinie zwischen Aserbaidschan und der Republik Arzach. An der Waffenstillstandslinie eskalierten die Kämpfe am 27. September 2020 zu einer großräumigen bewaffneten Auseinandersetzung und einer aserbaidschanischen Offensive, die weit in das Gebiet von Arzach vorstieß. Dabei wurden auch Städte nahe der Front sowie ferner liegende Orte bombardiert und beschossen. Am 10. November 2020 wurden die direkten Kampfhandlungen in einem von Russland vermittelten Waffenstillstandsvereinbarung zwischen den Konfliktparteien beendet. Quelle: Wikipedia / Bildquelle: Wikipedia Jerewan (ParsToday/PressTV) - Armenien hat einen Vorschlag der Türkei zur Einrichtung eines Korridors zwischen Aserbaidschan und Nachitschewan, der sein Territorium durchqueren würde, entschieden abgelehnt. fast zwei Monate nachdem der Iran gewarnt hatte, dass es keine Änderungen der geopolitischen Grenzen der Region tolerieren würde. Quelle: Parstoday.com Ein Kriegsziel sowohl von Aserbaidschan sowie der Türkei wurden nicht erreicht. Die Errichtung eines Korridors zwischen Aserbaidschan und Nachitschewan. Somit bleibt der Türkei der direkte Zugriff (Handelsweg) an die Ölquellen von Baku (Kaspisches Meer) versperrt. Durch die Lage innerhalb eines Erdölfördergebiets ist Baku der Knotenpunkt mehrerer Erdölleitungen und besitzt einen bedeutenden Erdölhafen. Fazits: Erdoğan wird solange im Armenienkonflikt solange zündeln bis ein Flächenbrand entsteht. Die westlichen Nachrichtenagenturen sollten endlich einmal die wahren Gründe für die militärischen Konflikte benennen. Bei den Konflikten dieser Welt (Irak, Syrien, Libyen, Afghanistan, Armenien u.v.a.) ging und geht es nur um die Ausbeutung von Ressourcen sowie um die Beherrschung von Handelswegen. Unter Nachrichten als Plural von Nachricht (oft auch synonym für Nachrichtensendung) ist die regelmäßige Berichterstattung über aktuelle politische, wirtschaftliche, soziale, kulturelle, sportliche und sonstige Ereignisse in komprimierter Form zu verstehen. Nachrichten sollten umfassend, objektiv und nicht gefiltert über Ereignisse berichten. Editor: Blog Admin
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