Russland, China, Türkei: Wer gewinnt in Afghanistan? Artikel aus der Berliner Zeitung / Autor: Michael Maier 16.8.2021 Afghanistan ist strategisch von entscheidender Bedeutung im Kampf der Weltmächte um die Vorherrschaft im euroasiatischen Raum. Es geht um viel. Der Abgang des afghanischen Präsidenten nach der Machtübernahme der Taliban erfolgte am Sonntag überhastet: Nach Angaben der russischen Botschaft in Kabul soll er mit vier Wagen und einem Hubschrauber voller Geld ins Ausland geflüchtet sein, so die russische Nachrichtenagentur RIA. Ghani hatte offenbar nicht genug Zeit, um alles mitzunehmen, so Botschaftssprecher Nikita Ischtschenko: „Vier Autos waren voll mit Geld. Sie versuchten, einen weiteren Teil des Geldes in einen Hubschrauber zu stopfen, aber es passte nicht alles hinein. Und ein Teil des Geldes blieb auf der Rollbahn liegen.“ In welches Land sich Ghani abgesetzt hat, ist nicht bekann Das unrühmliche Ende einer ruhmlosen Ära der Regierung im Dienste ausländischer Geldgeber bedeutet einen Neustart für Afghanistan. Das Land ist von strategisch entscheidender Bedeutung im Kampf der Weltmächte um die Vorherrschaft im euroasiatischen Raum. Es geht um viel – und Afghanistan hat viel zu bieten: Die USA und der Westen, China, Russland und die Türkei haben Interessen. Sie alle buhlen nach dem Ende der westlichen Besatzung um gute Beziehungen – gleichgültig, ob die islamistischen Taliban zur jeweiligen ideologischen Ausrichtung passen oder nicht. Eine der Spielregeln gilt im Poker um die Zukunft Afghanistans für alle: „Die Taliban kontrollieren nun die höchst lukrativen Schmuggler-Netzwerke. Diese bringen riesige Profite, vor allem mit dem Drogenhandel. Die Schmuggler-Routen entscheiden darüber, wer in Afghanistan herrscht“, sagt Suzanne Levi-Sanchez vom U.S. Naval War College in Rhode Island. Die Afghanistan-Expertin und Autorin mehrerer Bücher über die Region sagt, dass die Taliban seit einigen Jahren insbesondere die Abhängigkeit von Heroin strategisch einsetzen, um Unterstützer und Mitarbeiter entlang der Schmuggler-Routen an sich zu binden: „Das afghanische Heroin, das wegen seiner hohen Konzentration schnell zu Abhängigkeit führt, ersetzt das Opium. Sie geben es den Leuten und haben sich so eine Basis in der Bevölkerung aufgebaut.“ Der Westen hat nie verstanden, wie Afghanistan funktioniertMit den Einnahmen aus dem Drogen-, Waffen- und Menschenhandel sind die Taliban auch wirtschaftlich in der Lage, gegenüber den Großmächten selbstbewusst aufzutreten. Man dürfe sie auch keinesfalls intellektuell unterschätzen, sagte Levi-Sanchez: „In den Verhandlungen mit US-Außenminister Mike Pompeo sind die Taliban immer als Sieger vom Platz gegangen. Sie wussten genau, wie sie die für sie besten Lösung durchsetzen konnten.“ Genützt hat den Taliban auch die Tatsache, dass der Westen nie wirklich verstanden hat, wie Afghanistan politisch funktioniert. Levi-Sanchez: „Die Taliban haben über Jahre mit verschiedenen Distrikten und Provinzen verhandelt. Sie waren in der Lage, ganz schnell nach dem Abzug der westlichen Allianz Positionen zu besetzen.“ So habe es immer ein Schattenkabinett gegeben. Das ist von den politischen Strategen in Washington, London, Brüssel und Paris nicht gesehen worden, weil man im Westen von der Idee des Aufbaus eines Zentralstaates beseelt war. Dieser ist nun in den Händen der Taliban, gegen die der Westen zwanzig Jahre lang erbittert gekämpft hat. Allerdings kann man auch nicht sagen, dass die Taliban die gesamte Bevölkerung des Landes repräsentieren. Vor allem aber ist die Gruppe selbst heterogen: Die Taliban haben immer dezentral operiert – zu Zeiten der sowjetischen Besatzung ebenso wie während des „Kriegs gegen den Terror“. Daher gibt es keinen Anführer, hinter dem sich die Einheiten scharen. Levi-Sanchez: „Es ist nicht klar, ob es den Taliban gelingt, die Kontrolle über alle Einheiten so zu behalten, dass Vereinbarungen auch eingehalten werden.“ Tausende internationale Söldner und Milizionäre sind in AfghanistanDas zweite große Problem: Mittlerweile halten sich Tausende internationale Söldner und Milizionäre in Afghanistan auf. Sie sind teilweise mit dem Islamischen Staat assoziiert, einige Gruppen gehören zu Al Kaida. Im Kampf gegen den Westen haben diese Kämpfer an der Seite der Taliban gekämpft, sie werden nun, so glaubt Levi-Sanchez, ihren Anteil am Erfolg einfordern. Ob sie allerdings danach das Land verlassen oder aber von Afghanistan aus in andere Länder der Region ausschwärmen, ist unklar. Niemand kann wirklich sagen, wer hinter den Söldnern steht. Pakistan, Saudi-Arabien, der Irak und die Türkei wurden immer wieder genannt. In jedem Fall fürchten China und Russland, dass die Söldner sich nach dem Fall Afghanistans neuen Zielen zuwenden könnten: „Moskau und Peking haben diese Bedrohung in den vergangenen Jahren immer übertrieben. Doch mit dem Abzug der Amerikaner sind viel mehr Söldner nach Afghanistan gekommen, sodass die Angst vor Übergriffen durchaus begründet scheint“, sagte Suzanne Levi-Sanchez. Für Russland hat die Strategie eher eine defensive Komponente: Moskau will Stabilität in der Region. Das Land ist als Rohstofflieferant nach Europa und nach Asien vor allem daran interessiert, dass die Infrastruktur intakt bleibt. Auch China hat ein Interesse an funktionierenden Bahnlinien, Straßen und Pipelines: Das Land will mit der „Neuen Seidenstraße“ einen Handelsweg von historischem Ausmaß eröffnen. China hat mit dem Wakhan-Korridor einen strategisch wichtigen geografischen Anknüpfungspunkt an der Grenze zu Afghanistan. Daher hat die Führung in Peking bereits vor einigen Wochen erstmals eine Delegation der Taliban empfangen, um über die Zusammenarbeit zu reden. Das Treffen hat viele Beobachter überrascht: Die kommunistische Partei Chinas kämpft mit großer Härte gegen die Uiguren und will muslimische oder gar islamistische Gruppen nicht dulden. Ähnlich verhält es sich mit Russland: Die Taliban werden von Moskau als „Terror-Organisation“ geführt und sind verboten. Doch am Montag gab das Außenministerium bekannt, man werde Kontakte auf „Arbeitsebene“ installieren, um mit den Taliban über die Zukunft reden zu können. Auch die Türkei ist fieberhaft bemüht, das Scheitern der Nato-Mission in einen Erfolg für ihre Interessen in der Region zu münzen: Wie die von britischen Sicherheitsexperten betriebene Website Middle East Eye berichtet, wollen türkische Unterhändler mit der neuen Regierung möglichst schnell ins Gespräch kommen. Die Türkei war bereits in Verhandlungen mit den Taliban: So sollten türkische Einheiten nach dem Abzug der Nato den Flughafen von Kabul kontrollieren. Die überraschende Machtübernahme der Taliban hat den ursprünglichen Fahrplan zwar durchkreuzt. Doch verweisen türkische Offizielle nun auf die hundert Jahre alten türkisch-afghanischen Beziehungen und heben die Tatsache hervor, dass die türkischen Nato-Truppen in Afghanistan nie gegen die Taliban gekämpft hätten und daher die Gesprächsbasis auch nach dem Ende der Mission intakt sein sollte. Interessanterweise zeigt man in Ankara nach dem gemeinsamen Nato-Scheitern mit dem Finger auf London: Die regierungsnahe Zeitung Sabah schreibt in einem Kommentar, dass Afghanistan eigentlich ein artifizielles Produkt Großbritanniens sei - mit künstlich gezogenen Grenzen. Der Kommentator scheibt, dass Invasionen immer schlecht seien. Den Preis würde immer die lokale Bevölkerung zahlen - was sicher zutreffend ist. Der Autor vergisst jedoch die jüngste Invasion der Türkei in Syrien zu erwähnen, wo auch die Grenzen neu festgelegt werden sollen. Der Kommentator schreibt, dass in Afghanistan verschiedene ethnische Gruppen leben, unter anderem Turkmenen. Der Schutz der Turkmenen in Syrien war einer der Gründe für den Einmarsch der türkischen Armee. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan versteht sich als Schutzmacht für muslimische Gruppen in aller Welt. Zuletzt hatte die Türkei mit ihrer vor allem im Drohnen-Bereich exzellent ausgerüsteten Streitmacht den Armenieren in Berg Karabach eine schwere Niederlage zugefügt. Auch für die Uiguren setzt sich Erdogan ein. Allerdings dürfte ihm hier China seine Grenzen aufzeigen. Siegeswillen aus Jahrzehnten des Kampfes gegen GroßmächteDie entscheidende Frage dürfte nun sein, ob die sogenannte Troika aus den USA, Russland und China ihre Verhandlungen mit Kräften in Afghanistan fortsetzen kann: Diese Gespräche laufen seit einiger Zeit, wenngleich bisher ohne zählbares Ergebnis. Wie sich andere Nationen wie die Vereinigten Arabischen Emirate, die die Taliban bisher unterstützt hatten, noch in die Neuordnung einbringen werden, ist unklar; ebenso wie die Rollen von Pakistan oder Indien, die ebenfalls geostrategische Interessen in der Region verfolgen.
Mit den Erlösen aus dem Drogenhandel, den erbeuteten westlichen High-Tech-Waffen und dem Siegeswillen aus Jahrzehnten des Kampfes gegen Großmächte ist die Verhandlungsbasis der Taliban jedenfalls besser denn je. Die korrupte Elite des Landes hat alle Institutionen diskreditiert. Der entscheidende Fehler der westlichen Allianz: Sie wollte die Institutionen über die Zentralregierung in Kabul aufbauen. In den Provinzen waren die lokalen Regierungen sowie die lokalen informellen Führer aber schwach. Politologin Suzanne Levi-Sanchez: „An diesen Orten hatten die Taliban-Schattenregierungen Netzwerke aufgebaut und hatten Legitimität bei ihren Anhängern, wenngleich nicht bei den Einheimischen, die sich den Taliban widersetzten.“ Die Präsenz an der Basis verschaffte den Taliban jedoch einen Vorteil: Sie konnte Vereinbarungen zwischen den Provinzregierungen aushandeln, um sehr schnell die Kontrolle im Land zu übernehmen. So wird Afghanistan nach dem Abzug der Westmächte zu einem Scharia-Staat, in dem zumindest klar ist, wer künftig das Sagen hat.
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