Mehr als ein Jahrhundert ist das nun her, aber es fühlt sich nicht so an. Denn wir sind Zeuge einer Katastrophe, die ähnliche Züge aufweist, nur diesmal auf dem Trockenen. Die Zeit läuft ab in Afghanistan. Fassungslos blicken wir auf den Horror vor den Toren des Kabuler Flughafens und auf die Verzweiflung der Zurückbleibenden. Wir hören die Hilferufe und fühlen uns hilflos. Das Gefühl trügt nicht. Die Weichen sind gestellt. Die Grenzen der Logistik, die Zahl der verbleibenden Starts und Landungen auf dem Rollfeld, die Choreografie des Abzugs von knapp 6.000 amerikanischen Soldaten und eine unerbittliche "Deadline" lassen keine Chance mehr, um alle zu retten, die in Lebensgefahr schweben.
Deutsche Behörden wurden gestern von der Zahl deutscher Staatsbürger überrascht, die noch immer in Kabul feststecken. Den Amerikanern geht es nicht anders. Die nehmen ohnehin nur noch Menschen mit US-Pass oder Dauer-Aufenthaltsgenehmigung mit – wer als Ortskraft nur ein Visum hat, kommt nicht mehr durch die Tore. Bis vor Kurzem noch hatten bürokratische Hürden und weltfremde Definitionen der Regeln, die zum Antrag berechtigen, die Zahl der Ausreisenden künstlich klein gehalten. So haben es Amerikaner, Briten und auch wir Deutsche gemacht. Wir haben Menschen sehenden Auges in ein Todesrisiko geschickt. Paragraf soundso, da kann man leider nichts machen, wir bitten um Verständnis. Es war und ist eine Schande. Inzwischen allerdings spielt das keine Rolle mehr. Man kommt nicht mehr zum Flughafen von Kabul. Und dann nicht rein. Und erst recht nicht mehr weiter. Die Retter packen ein, denn ihre Zeit ist um. Frankreich will seine Evakuierungsmission heute beenden. Polen hat schon gestern Schluss gemacht. Deutschland versucht noch, etwas Zeit herauszuschlagen. Am Dienstag verlässt der letzte US-Soldat den Flughafen. Mit in den Maschinen: die internationale Presse. Und wenn sie nur könnten, wären auch viele afghanische Kollegen mit dabei. Unter unabhängigen Journalisten geht die Angst um, sie haben Drohungen erhalten und halten sich versteckt. Einige lokale Medien können noch arbeiten, doch abseits von Kabul werden sie dichtgemacht oder auf Linie gebracht. Es wird nicht lange dauern, bis die internationale Aufmerksamkeit sich vom Hindukusch abwendet. Erst dann haben die Taliban wirklich freie Hand, und das muss man fürchten. Es nützt den Eingeschlossenen wenig, dass die neuen Herren Afghanistans gestern dem deutschen Botschafter versichert haben, nach dem endgültigen Abzug der internationalen Koalition werde es zivile Flüge und die Möglichkeit zur Ausreise geben – jedenfalls, Achtung, wenn die Papiere stimmen. Denn wer untergetaucht ist, weil er bei einer Begegnung mit den Turbanträgern um sein Leben fürchten muss, schlendert nicht an deren Passkontrolle vorbei, nur weil sie dort eine gebügelte Uniform tragen. Ohnehin sind die Taliban auf das Thema Ausreise gar nicht gut zu sprechen. Sie fürchten die Abwanderung der Qualifizierten, der Fachkräfte und all derer, die das Land am Laufen halten können. Ihre Sorge ist berechtigt, denn das System, das sie übernehmen, ist schwer angeschlagen. Hunderte Menschen standen in Schlangen vor den Banken, die gestern zaghaft ihre Tore öffneten, und hofften darauf, endlich an Bargeld zu gelangen. Seit dem Fall Kabuls waren die Schalter zu und die Geldautomaten leer. Die Tresore der Zentralbank sind das übrigens auch. Deren inzwischen geflohener Ex-Chef wusste zu berichten, dass die Taliban vorbeigeschaut und die Angestellten gefragt hätten, wo denn das Geld sei. Die korrekte Antwort: nicht in Afghanistan. Die Guthaben befinden sich in den USA (inzwischen gesperrt) oder kamen vom Internationalen Währungsfonds (inzwischen auch gesperrt). Und die Weltbank, die für die Finanzierung von Entwicklungsprojekten zuständig ist, zog gestern ebenfalls den Stecker. Wer in der Geldnot der Eroberer eine Chance für die Zurückgelassenen oder die Menschenrechte sieht, sollte sich allerdings nicht zu früh freuen. Deutschland hat den Taliban humanitäre Hilfe in Aussicht gestellt, wenn sie sich benehmen und den Flughafen weiterhin offenhalten. Auf einen wirtschaftlichen und diplomatischen Deal hoffen auch andere: Geld und die formale Anerkennung des Regimes gegen Zugeständnisse bei der Ausreise gefährdeter Afghanen. Der Versuch ist ehrenwert, doch die Taliban sitzen am längeren Hebel. Kurzfristig herrscht zwar Ebbe im Staatssäckel. Aber statt des Westens könnten China und Russland dem afghanischen Staat zu Hilfe eilen, als alternative Geldgeber, die Menschenrechtsverletzungen ebenfalls nicht so eng sehen. Die "Gotteskrieger" selbst sind sowieso nicht in Not: Sie profitieren schon lange vom (bisher) illegalen Handel über die poröse Grenze zum Iran und zu Pakistan, harte Drogen inklusive. Sie wissen, dass Sanktionen vor allem die breite Bevölkerung treffen und eine humanitäre Katastrophe auslösen könnten, der dann vermutlich eine Flüchtlingswelle folgt. Anders gesagt: Die Drohkulisse des Westens bröckelt bereits, bevor sie richtig aufgebaut ist. Leider werden wir hier nicht nur Zeuge taktischer Winkelzüge. Die Tragödie um die afghanischen Ortskräfte und all die anderen, die es jetzt nicht mehr aus dem Land schaffen werden, ist noch nicht einmal vorbei, da bahnt sich schon die nächste Katastrophe an: Anhaltende Dürre in diesem Jahr hat Teile der Ernte vernichtet und macht mehr als 18 Millionen Menschen von humanitärer Hilfe abhängig. Und das Coronavirus in seiner aggressiven Delta-Variante hat um das Land auch keinen Bogen gemacht. Für uns im Westen heißt das: An weiterer Hilfe für Afghanistan führt kein Weg vorbei. Ganz egal, wer dort regiert und wie laut dabei die Zähne knirschen. Der Westen hat mit einer an Bösartigkeit grenzenden Inkompetenz die "Titanic" auf den Eisberg gesteuert und die Leute aus dem unteren Deck ihrem Schicksal überantwortet. Das ist unentschuldbar. Noch einmal geht das nicht. Quelle: T-Online / Autor: Florian Hams, 26.08.2021 um 7:57 Uhr
0 Comments
Leave a Reply. |
ArchivKategorien |